Was ist Multiple Sklerose?
Multiple Sklerose (MS) ist die häufigste chronisch-entzündliche Erkrankung des zentralen Nervensystems (ZNS). In Deutschland leben mehr als 250.000 Menschen mit Multipler Sklerose, wobei Frauen häufiger betroffen sind als Männer (etwa 70:30). Multiple Sklerose kann in jedem Alter auftreten, in der Regel erkranken Betroffene jedoch zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr.1
Pathogenese der Multiplen Sklerose
Kennzeichen der Multiplen Sklerose sind verteilt im ZNS auftretende entzündliche Läsionen. Diese entstehen durch den Angriff des körpereigenen Immunsystems auf die als Myelinscheiden bezeichnete Ummantelung der Nerven und die dadurch ausgelösten Entzündungen in Gehirn und Rückenmark. Während die Wissenschaft lange davon ausging, dass T-Zellen allein entscheidend an der Pathophysiologie der Multiplen Sklerose beteiligt sind, weiß man heute, dass auch B-Zellen wesentlich zu den Entzündungsprozessen beitragen.2,3
Mehr über die Rolle der B-Zellen erfahren Sie in dem Beitrag: B-Zellen als Ziel der MS-Therapie.
B- und T-Zellen werden in der Peripherie aktiviert und wandern über die Blut-Hirn-Schranke ins ZNS ein, wo sie über verschiedene Mechanismen die MS-typischen Entzündungsprozesse verursachen:2,3
- B- und T-Zellen stimulieren sich gegenseitig:
Fehlgeleitete B-Zellen erkennen Antigene der Myelinscheiden und präsentieren diese den T-Zellen. So werden T-Zellen für den Angriff auf das Myelin aktiviert. - Aktivierte B- und T-Zellen setzen proinflammatorische Zytokine frei und aktivieren weitere Immunzellen.
- B-Zellen reifen zu Plasmazellen heran und bilden Autoantikörper. Diese führen zur Aktivierung von Makrophagen und zur Schädigung der Myelinscheiden.
Die Entzündungen resultieren in der als Demyelinisierung bezeichneten Zerstörung der Myelinscheiden im ZNS. Durch die Demyelinisierung kommt es zu einer Verlangsamung der Weiterleitung von Nervenimpulsen und zu einem Verlust der Axone.2,3 Diese Schädigung kann bei MS-Patienten verschiedenste neurologische Symptome hervorrufen. Lesen Sie mehr über MS-Symptome.
Ursache der Multiplen Sklerose
Die genaue Ursache der Multiplen Sklerose ist nicht bekannt. Die Wissenschaft geht davon aus, dass die Erkrankung durch eine Kombination verschiedener genetischer und Umweltfaktoren ausgelöst wird. So wurden über 200 Gene identifiziert, die das Risiko für Multiple Sklerose erhöhen. Multiple Sklerose ist aber keine klassische Erbkrankheit. Zwei bis vier Prozent entwickeln die Krankheit selbst, wenn ein Verwandter ersten Grades erkrankt ist. Zu den Umweltfaktoren, die das Risiko für Multiple Sklerose erhöhen, gehören Rauchen, Übergewicht und Infektionen mit bestimmten Viren. Aktuelle Studien belegen zudem einen kausalen Zusammenhang zwischen dem Epstein-Barr-Virus und der Entstehung einer MS. Mehr darüber erfahren Sie hier: Epstein-Barr-Virus – Ursache der MS?
Auch der geographische Breitengrad spielt eine Rolle, wobei die Prävalenz der Multiplen Sklerose in äquatorferneren Regionen höher ist. Eine Erklärung ist, dass es durch eine verminderte Sonnenlichtexposition zu einem Vitamin-D-Mangel kommt und dadurch die Entstehung einer Multiplen Sklerose begünstigt wird.4 Aktuelle Studien deuten darauf hin, dass auch eine gestörte Darmflora eine MS-Erkrankung begünstigen könnte.5
Verlauf der Multiplen Sklerose
Die Multiple Sklerose kann schubförmig oder progredient verlaufen. Unterschieden werden die folgenden Verlaufsformen:1
RRMS (relapsing remitting MS) – Schubförmig remittierende MS
Bei über 80 Prozent der MS-Betroffenen treten zumindest zu Beginn der Erkrankung Schübe mit vollständigen oder teilweisen Remissionen der Symptome auf. Frauen sind etwa dreimal häufiger von RRMS betroffen als Männer.
SPMS – Sekundär progrediente MS
Aus der RRMS entwickelt sich im Verlauf eine zunehmend kontinuierlich fortschreitende Erkrankung. Treten in der Übergangsphase weiterhin MS-Schübe auf, spricht man von einer SPMS mit aufgesetzten Schüben, kurz rSPMS (relapsing SPMS).
Die schubförmigen Verläufe RRMS und rSPMS werden auch unter dem Begriff „relapsing MS“, kurz RMS, zusammengefasst.
PPMS – Primär progrediente MS
Die Erkrankung schreitet von Beginn an kontinuierlich fort. MS-Schübe kommen nur selten vor. Im Gegensatz zur RRMS sind Männer und Frauen gleich häufig betroffen.
Definition: MS-Schub1
Das Auftreten neuer oder bereits zuvor aufgetretener Symptome, die
- mindestens 24 Stunden anhalten
- mindestens 30 Tage nach einem vorausgegangenen Schub auftreten
- nicht durch andere physische oder organische Ursachen ausgelöst sind (z. B. Uhthoff-Phänomen).
Zu Beginn der Erkrankung bilden sich bei der schubförmigen MS die Symptome nach einem Schub häufig wieder zurück. Bei Fortschreiten der Krankheit können die Schäden im ZNS schließlich nicht mehr kompensiert werden und es treten dauerhafte Beeinträchtigungen auf. Die Progression der Multiplen Sklerose kann auf zwei Arten erfolgen: Löst ein MS-Schub eine dauerhafte Verschlechterung der Erkrankung aus, indem sich die Symptome nicht mehr vollständig zurückbilden, spricht man von schubabhängiger Verschlechterung, kurz RAW (relapse-associated worsening). Die Krankheit kann aber auch unabhängig von Schüben fortschreiten. Diese Progression unabhängig von Schubaktivität wird als PIRA (progression independent of relapse activity) bezeichnet. Wichtig zu wissen: Auch bei den schubförmigen Verläufen RRMS und rSPMS kann die Erkrankung unabhängig von Schüben voranschreiten.6
Die Verlaufsformen der Multiplen Sklerose
Das springende Känguru verdeutlicht die unvollständige Rückbildung von Symptomen und damit die Verschlechterung des Krankheitsbildes nach einem MS-Schub (RAW), während die Schnecke für das langsame, stetige Fortschreiten der MS (PIRA) steht.
Um die Progression der Multiplen Sklerose zu bremsen und so die Akkumulation von Behinderungen zu verlangsamen, sollte frühzeitig nach der Diagnose eine verlaufsmodifizierende MS-Therapie (disease modifying therapy, DMT) eingeleitet werden.1
Erfahren Sie mehr über die verlaufsmodifizierende Therapie.
Quellen
- Hemmer B. et al., Diagnose und Therapie der Multiplen Sklerose, Neuromyelitis-optica-Spektrum-Erkrankungen und MOG-IgG-assoziierten Erkrankungen, S2k-Leitlinie, 2021, in: Deutsche Gesellschaft für Neurologie (Hrsg.), Leitlinien für Diagnostik und Therapie in der Neurologie
- van Langelaar J et al. Front Immunol. 2020;11:760.
- Thompson AJ et al. Lancet. 2018;391:1622-1636.
- Reich DS et al. N Engl J Med. 2018;378:169-180.
- Cryan JF et al. Lancet Neurol. 2020;19:179-194.
- Kappos L et al. JAMA Neurol. 2020;77:1132-1140.